Das aktuelle Interview

mit Alexander und Brigitte, Graf und Gräfin von Hardenberg (Landwirtschaftsbetrieb in Stolzenau a. d. Weser)

Hildegard Hayessen (H): Liebe Brigitte, lieber Alexander, ich freue mich, dass Ihr euch zu diesem Interview bereit erklärt habt. Bisher waren meine Interview-Partner immer „Persönlichkeiten“ aus unserer Region. Diesmal werfen wir einen Blick über unseren Tellerrand hinaus bis nach Nienburg an der Weser. Aus welchem Grund? Es ist euer Engagement für Flüchtlingsfamilien, von dem Ihr uns erzählt habt und das mich sehr beeindruckt hat. Vor allem auch deshalb, weil Ihr sicher nicht zu dem Personenkreis gehört, der Däumchen-drehend auf neue Herausforderungen warten müsste. Wie kam es denn zu diesem Engagement?

Alexander (A): Im Frühjahr 2015 konnten sich Hilfswillige in eine Liste unserer Gemeindeverwaltung eintragen. Das habe ich gemacht und wurde dann im Oktober 2015 von der Verwaltung gefragt, ob ich mich um drei Familien kümmern könne, die in ein Mehrfamilienhaus eines Nachbarortes, 10 km von uns entfernt, eingewiesen worden waren. Es handelte sich um eine syrische Familie mit drei Kindern, eine syrische Frau mit einem 17jährigen Bruder und einem 5jährigen Neffen sowie einer palästinensischen Familie aus Syrien mit vier Kindern. Der Vater, Hussein, sprach gut Englisch und war von da an mein Helfer und Dolmetscher. Er ging wöchentlich zur Tafel und erzählte allen anderen, wenn sie Hilfe bräuchten, sollten sie sich an Alexander wenden. Das war der Beginn umfangreicher Hilfsaktionen verschiedenster Art.

Brigitte (B): Als im Januar 2016 die ersten Flüchtlinge auch unserem Dorf Leese zugewiesen wurden, hat unsere Hilfsorganisation „Leese Hilft“ Helfer für einen ersten Sprachkurs gesucht und mich angesprochen. Von da an habe ich vormittags ein bis 1 ½ Std. Sprachunterricht gegeben.

H.: Hattest du auch das Glück, über gewisse Englisch-Kenntnisse einzelner „Schüler“ Verständigungsschwierigkeiten zu meistern? Oder gab es brauchbares Unterrichtsmaterial?

B.: Nein, Englischkenntnisse gab es nicht. Außerdem handelte es sich um Afghanen, die zum Teil Analphabeten waren. Wir hatten die Kursteilnehmer in kleine Gruppen aufgeteilt nach ihrer Herkunft. Ich hatte die Afghanen übernommen. Geeignetes Unterrichtsmaterial gab es anfangs nicht. So haben wir uns beholfen mit den allerersten Kinderbüchern unserer Enkel oder Konsumartikeln aus dem benachbarten Dorfladen. Dieser erste Sprachkurs lief etwa ein Jahr. Anschließend habe ich den Kindern der Afghanen täglich Nachhilfeunterricht gegeben. Leider gab es dabei auch Enttäuschungen, weil manche Kinder vielleicht infolge traumatischer Erlebnisse nicht mehr mitarbeiteten, bzw zur verabredeten Zeit schliefen oder einfach nicht zuhause waren. Für diese Kinder wurde dann eine Nachmittagsbetreuung in der Schule eingerichtet.

H.: Alexander, kannst du uns genaueres über besagte Hilfsaktionen berichten? Neben Behördengängen gab es sicherlich einiges Andere zu erledigen.

A.: Die ersten Hilfsaktionen waren das Besorgen von gebrauchten Fahrrädern und Haushaltsgegenständen wie Teppiche, Küchenutensilien, wie z.B. große Kochtöpfe, da Erstausstattung der Wohnungen meistens auf Kleinfamilien od. Ehepaare ohne Kinder ausgelegt war. Dann kamen Behördengänge, Arztbesuche, Vertretung beim Vormundschaftsgericht, Krankenhausbesuche, Anmeldung in Kindergärten od. Schulen, Schlichtung von Streitigkeiten, Wohnungsvermittlung etc.
Anfangs reagierten die Behörden sehr positiv, später zunehmend ablehnend, weil man lästig wurde.

H.: Das alles kostet viel Zeit und sicher auch Nerven. Wie hast du das geschafft neben allem, was es für dich noch auf dem Hof zu tun gibt?

A.: Seit 2011 bin ich Altenteiler und helfe unserem Sohn nur noch bei Bedarf. Die Enkelkinder haben sich allerdings beschwert und gesagt: Du hilfst nur noch den Flüchtlingen. Das war von Okt. 2015-Ende 2016. Da war es beinahe ein Fulltimejob. Danach wurde es stetig weniger. Heute besuche ich einige Familien sporadisch od. bei Bedarf, wenn sie noch Hilfe brauchen. Nerven haben mich einige Behördenmitarbeiter gekostet, weil sie ohne jede Empathie berechtigte Anliegen einfach nicht oder sehr zögerlich bearbeitet haben. Viele sind in größere Städte umgezogen wegen des besseren Arbeitsplatzangebotes.

H.: Gab es unter den Flüchtlingen, die du betreut hast, auch durch Krieg od. Flucht stark traumatisierte Personen?

A.: Ja, die gab es. Ich habe immer noch engen Kontakt zu einer irakischen Familie aus Mossul, deren ältester Sohn vom IS umgebracht worden war. Der Vater war in Gefangenschaft des IS und ist gefoltert worden. Viele Familienmitglieder der Großfamilie sind immer noch verschollen. Die älteste Tochter der Familie wurde hier magersüchtig und musste behandelt werden. Auch durch einen Wohnungswechsel ist sie heute geheilt. Mit zwei anderen Kindern bin ich öfter in einer psychiatrischen Klinik gewesen. Symptome waren Unkonzentriertheit in der Schule, Hang zu Handgreiflichkeiten in Schule und Sportverein, Bettnässen, etc..

H.: Ich könnte mir vorstellen, dass angesichts solcher Schicksale die eigenen Probleme gefühlt zu Bagatellen schrumpfen. Könnt Ihr das bestätigen?

A.: Ja, das können wir. Das erste Treffen mit der Syrerin, ihrem minderjährigen Bruder und fünfjährigem Neffen hat mich sehr berührt, wie liebevoll sie mit dem Jungen umgegangen ist und als sie mir geschildert hat, wie die Flucht abgelaufen ist. Ihre Schwester und deren Mann, also die Eltern des 5jährigen Jungen mussten die beschwerliche Flucht aus gesundheitlichen Gründen abbrechen und ihren Sohn der Obhut der Tante überlassen, die sich in anrührender Weise um den Jungen gekümmert hat. Die Flucht bestand aus langen Fußmärschen, einer Bootsfahrt nach Griechenland und der üblichen Balkantour bis nach Deutschland. Für mich war es sehr befriedigend, dass ich vor dem Vormundschaftsgericht gegen das Jugendamt erreichen konnte, dass der Junge in der Obhut der Tante bleiben konnte. Im letzten Jahr konnten die Eltern nach zweieinhalb Jahren endlich nach Deutschland nachkommen. Das andere Schlüsselerlebnis war der erste Besuch auf Vermittlung von Hussein bei der irakischen Familie, die schlecht untergebracht und mit den Nerven am Ende war. Als mir ihre Geschichte unter Tränen geschildert wurde, war ich doch sehr berührt. Das sind Momente, wo man demütig erkennt, wie gut es uns geht. Ich hatte noch mehrere solcher Erlebnisse vor allem mit irakischen und afghanischen Familien, aber auch Palästinensern, die seit ihrer Geburt in dem großen 1948 gegründeten Flüchtlingslager Ain Al Hilweh gelebt hatten. Wegen ständiger Terroraktionen durften die Kinder nicht außerhalb ihres Hauses spielen. Sie kannten kaum einen Baum oder Strauch. Als der Hauseigentümer ihrer Wohnung in Leese die Bäume gefällt hat, waren sie in Tränen aufgelöst, weil sie das überhaupt nicht verstehen konnten.

H.: Deine Schilderungen zeigen, du bist sehr mit dem Herzen dabei. Ist denn im Laufe der Zeit aus mancher Beziehung sogar eine Freundschaft entstanden?

A.: Ja, es gibt eine freundschaftliche Beziehung zu einigen Familien, insbesondere zu der irakischen Familie. Ich besuche sie etwa alle drei Wochen und sie kommen zum Tee zu uns. Anfangs gab es ständig Essenseinladungen. Das hat sich doch ziemlich erledigt, weil die Gepflogenheiten sehr unterschiedlich sind. Ich gehöre zur Familie. Deshalb haben sie auch kein Kopftuch auf, wenn ich sie besuche. Eine zeitweilige Begrüßung nach unseren Gepflogenheiten mit Kuss rechts und links wurde per Telefon von der 90jährigen Großmutter verboten. Zwei Familien sind weg gezogen. Über Whats App haben wir noch Kontakt. Die Syrerin lebt heute in Aachen und schreibt mir regelmäßig.

H.: Sollte irgendwann einmal wieder Frieden in den Kriegsgebieten einziehen, was wir uns alle sehr wünschen, dann würden vermutlich die meisten Flüchtlinge nur zu gern wieder in ihre Heimat zurückkehren, oder?

A.: Von den fünf Familien, zu denen ich noch engeren Kontakt habe, möchte zur Zeit keine zurück in die Heimat. Die Iraker haben alles verloren: Mitglieder der Großfamilie umgekommen, Wohnhaus, Firma im rechtsseitig des Euphrat gelegenen und vollständig zerstörten Mossul. Die Syrer sehen keine Zukunft im Terrorregime von Assad und die Palästinenser aus Syrien möchten natürlich nicht nach Syrien zurück, weil sie nicht die gleichen Bürgerrechte hatten wie die syrische Bevölkerung. In die Lager des UNHCR im Libanon möchten sie verständlicherweise auch nicht zurück. Außerdem sind sie staatenlos und damit ohne Chance, irgendwo aufgenommen zu werden.

H.: Deine Einschätzung klingt sehr ernüchternd. So traurig sieht es aus in weiten Teilen dieser Erde.
Ich möchte euch nun noch etwas ganz persönliches fragen: Was, glaubt Ihr, hat dieses Engagement für die Flüchtlinge euch gebracht, bzw. mit euch gemacht, vielleicht verändert?

A.: Wir haben sehr große Dankbarkeit erfahren, besonders von den vielen Kindern, die uns immer mit großen Augen und offenen Armen begrüßt haben, sehr vertraut und völlig offen. Immer wieder eine große Bereicherung für uns.

B.: Wir haben uns immer wieder über die verschiedenen Religionen, Kulturen und die Geschichte der Herkunftsländer unterhalten und konnten so unseren Horizont erheblich erweitern.

A: Mich hat das Schicksal der Palästinenser besonders beschäftigt und veranlasst, mich mit der Geschichte und der Literatur Palästinas und Israels zu beschäftigen.

B.: Ich kann mich jetzt besser in das Schicksal meiner aus Schlesien geflüchteten Vorfahren hineinversetzen, die ebenfalls unter großen Gefahren und Entbehrungen im Westen angekommen, nicht überall willkommen waren.

H.: Was möchtet Ihr, in wenigen Worten, den Menschen sagen, die den Flüchtlingen mit Angst, Argwohn oder gar Feindseligkeit begegnen?

B.: Diese Menschen möchten wir fragen: Habt Ihr Eure christlichen Grundsätze vergessen, wo fühlt Ihr euch ganz persönlich gestört oder eingeschränkt? Wird Euch etwas weggenommen? Und sagen: Geht selbst in die Familien, lernt sie kennen und bildet Euch ein Urteil!

H.: Liebe Brigitte, lieber Alexander, ich danke euch sehr für eure spontanen und ehrlichen Antworten auf meine Fragen. Obwohl mir einiges schon bekannt war, war dieses Interview nochmal eine Bereicherung für mich und ich hoffe, dass unsere Leser es auch so empfinden.

H.Hayessen

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